Judith Kalinowski

Doktorandin aus Göttingen, MS-Diagnose seit 2015

Wie haben Sie von Ihrer Erkrankung erfahren?

Meine MS-Geschichte begann rückblickend 2015. Ich habe anders gesehen als sonst: als wäre ein Schleier vor meinem Auge oder als würde ich durch eine beschlagene Brille gucken. Nicht unscharf, aber irgendwie milchig.

Ich bin zum Sehtest bei meiner Optikerin gegangen, die nichts gefunden hat und mich zur Augenärztin schickte. Auch dort wurde nichts gefunden und ich wurde zum Neurologen weitergeleitet. Dieser hat mich zum MRT (Magnetresonanztomographie) geschickt. Es kam heraus, dass ich eine Entzündung im Sehnerv hatte. Da es sich allerdings um die einzige Entzündung handelte und man erst ab drei  Entzündungsherden von Multiple Skelerose (MS) spricht, bekam ich noch keine Diagnose. Das nachfolgende Jahr hatte ich immer wieder Probleme mit meinem Auge und auch ein Kribbeln im Nacken und Rücken, wann immer ich meinen Kopf nach vorne beugte. Rückblickend war das auch die MS – das wusste ich nur zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Ende Dezember 2017 kam ich dann zur Kontrolle in die UMG. Da kam dann raus, dass ich mehrere Entzündungen im Gehirn habe und auch eine in der Halswirbelsäule. Am 22. Dezember 2017 bekam ich meine offizielle Diagnose von einer sehr netten Neurologin in der UMG.

Wie haben Sie sich dabei gefühlt?

Ich kann mich noch haargenau an die Situation erinnern. Ich weiß noch, wo ich stand und was in mir vorging, was ich fühlte – nämlich gar nichts.

Ich hörte die Worte „Es tut mir leid, Ihnen das zwei Tage vor Weihnachten und hier im Flur sagen zu müssen. Aber leider haben Sie Multiple Sklerose.“ Ich habe meiner Familie Bescheid gegeben und meinen Freund*innen. Mein bester Freund ist in die UMG gekommen, in der ich ein paar Tage bleiben musste. Ich habe viel mit Freund*innen gesprochen und einen unglaublichen Rückhalt gehabt.

Seit Beginn habe ich die MS nie verschwiegen. Ich habe sogar fast direkt nach meiner Diagnose einen Blog und eine Instagramseite zu diesem Thema gestartet. Wann immer die MS im Alltag aufkam, habe ich davon erzählt. Fast nie habe ich negative Reaktionen bekommen.

Die meisten Menschen sind sehr verständnisvoll. Viele wissen nicht, was sie sagen sollen, aber das kann ich nachvollziehen. Genauso kann ich nachvollziehen, wenn man als betroffene Person nicht darüber sprechen mag. Auch in der Uni habe ich nie ein Geheimnis aus der Erkrankung gemacht. Lehrende waren verständnisvoll und ich habe mein Studium gut abschließen können.

Jetzt promoviere ich sogar hier in Göttingen und alle wissen von der MS – Betreuer*innen wie Kolleg*innen. Nachteile habe ich dadurch nie erfahren, sondern nur Unterstützung.

Gibt es noch Beeinträchtigung von früheren Schüben, die Sie im Alltag spüren?

Ja, die gibt es. Aber ich muss sagen, dass sie weniger werden. Ich habe nach und nach gelernt, die Beeinträchtigungen von früheren Schüben von neuen Symptomen zu unterscheiden. Die alten Beeinträchtigungen treten meist dann auf, wenn mein Körper überhitzt ist (Sauna, Sport, heiße Sommertage), wenn ich körperlich oder psychisch gestresst bin, wenn ich müde bin oder zu viel auf den Bildschirm geguckt habe. Dabei handelt es sich um ein taubes oder kribbelndes Bein (manchmal kann ich es dann auch nicht zu hundert Prozent kontrollieren), ein schmerzendes Auge und Kribbeln im Rücken. Das alles hält sich aber in Grenzen und geht genauso schnell wieder weg, wie es gekommen ist.

Gibt es etwas, das Sie grundlegend verändert haben?

Ich habe direkt nach der Diagnose meinen Lebensstil verändert.

Meine Ernährung ist entzündungshemmend: Ich esse vegan und keine erhitzten Fette, viel Gemüse und Obst sowie Vollkornprodukte. Geraucht habe ich noch nie. Sport habe ich hingegen schon immer gemacht und habe es seit der Diagnose sogar ausgeweitet: Ich fahre viel Rennrad, gehe laufen und bouldern. Das macht mir sehr viel Spaß und nimmt Stress.

Genau hier liegt aber noch mein größtes Problem – Stress ist mein ständiger Begleiter. Ich versuche, gelassener zu sein und mehr auf meinen Körper zu hören. Versucht habe ich Meditation und Yoga. Allerdings habe ich noch nicht das Richtige für mich gefunden. Auf der Suche bin ich trotzdem noch.

Ich orientiere mich übrigens an einem Programm des australischen Neurologie-Professors George Jelinek, welches "Overcoming MS" heißt – die Lektüre seines Buches oder das Ansehen der OMS-Webseite würde ich jeder Person mit MS empfehlen.

Was hat sich nach der Diagnose sonst noch geändert?

Ich habe mich aber dazu entschieden, nicht mehr Lehrerin zu werden. Dort muss ich immer in der Schule sein, um zu unterrichten und bin weniger flexibel. Stattdessen mache ich nun einen Doktor in der Psycholinguistik. Wenn es mir nicht gut geht und ich Ruhe brauche, kann ich einfach zu Hause arbeiten. Das ist sehr hilfreich. Privat ist es so, dass ich weniger feiere oder in Kneipen gehe. Das ist nach wie vor möglich, allerdings brauche ich mehr Zeit, um mich danach zu erholen. Ansonsten kann ich alles wie vorher machen. Es gibt sogar etwas Positives an der Sache: Ich habe das Gefühl, die ganzen schönen Momente, die das Leben bietet, mehr wertzuschätzen und zu genießen.

Ich habe meine Instagram-Seite, auf der ich über mein Leben mit MS berichte und über die ich viel Austausch mit anderen Betroffenen habe.  Ich freue mich immer, wenn dort neue Leute den Austausch mit mir suchen. Zudem spreche ich mit Freund*innen über die MS und gehe jede Woche zur Psychotherapie. Ich leite zusammen mit einer Freundin die Göttinger DMSG Selbsthilfegruppe, zu der jede*r kommen kann.

Natürlich können einen Personen, die selbst eine chronische Krankheit haben, am besten verstehen. Die meisten anderen wollen es jedoch auch verstehen. Dort braucht man etwas mehr Zeit, um die Situation wieder und wieder zu erklären. Es ist sehr schwierig, aus unserer Perspektive zu sehen. Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, über die Krankheit, die einen Probleme und die Bedürfnisse zu reden.

Wie verlief die Therapie?

Zuerst habe ich Tabletten genommen, die ich leider nicht so gut vertragen habe (Verdauungsprobleme). Dann bin ich auf eine Infusion umgestiegen, die alle 6-12 Monate gegeben wird. Das ist natürlich sehr bequem, weil man sich nicht täglich mit der Therapie beschäftigen muss. Trotzdem habe ich noch einmal das Medikament gewechselt. Jetzt ist es eine Spritze im Monat. Das ist total einfach und man kann es zu Hause machen. Sehr bequem wie ich finde :)

Ich vertraue der Wissenschaft sehr und denke, dass die Neurolog*innen wissen, was sie tun. Zusätzlich informiere ich mich selbst über die Krankheit und Medikamente und lasse mir die Wirkungsweisen erklären. Dadurch fühle ich mich mit Medikamenten gut und sicher.

Haben Sie Ängste vor der Zukunft?

Natürlich gibt es die. Ich habe Angst, irgendwann keinen Sport mehr machen zu können; dass ich von Personen abgewiesen werde, weil ich krank bin oder dass ich kognitive Probleme bekomme; dass ich irgendwann eine Familie gründen will und nicht genug Energie für die Kinder habe. Da gibt es einige Sachen, die mir Sorgen bereiten. Allerdings läuft es aktuell gut und ich habe seit fast drei Jahren keine Krankheitsprogression. Also: Daumen drücken.

Der größte Wunsch ist natürlich eine Heilung, aber davon ist die Forschung noch etwas entfernt (denke ich zumindest). Daher ist mein aktueller Wunsch, dass Patient*innen besser darüber aufgeklärt werden, wie sie die MS selbstständig positiv beeinflussen können: Durch Ernährung, Stressreduktion, Sport und Vitamin D-Supplementation.

Mir hilft es sehr, mit anderen Betroffenen zu reden, um zu merken, dass man nicht allein ist. Auch die Ernährungsumstellung hat mir insofern geholfen, dass ich das Gefühl habe, die Krankheit etwas beeinflussen zu können. Aber am Wichtigsten ist, denke ich, dass man lernt, auf den eigenen Körper zu hören und durch die Diagnose nicht direkt denkt, das Leben sei vorbei. Denn die Diagnose muss heute bei weitem nicht mehr bedeuten, dass man starke Einschränkungen bekommt.

Was Sie anderen MS-Erkrankten mit auf den Weg geben möchten …

Das Leben ist auch mit MS lebenswert!

MS-Gruppe Göttingen

Ein Austausch unter Gleichgesinnten

Die Treffen finden jeden ersten Donnerstag im Monat um 18:00 Uhr in der Hospitalstraße 11 in Göttingen statt.

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