Virtuelles Sezieren: Die Idee der personalisierten Lehre
Zu Besuch bei Prof. Jochen Staiger und Prof. Thomas Dresbach im Zentrum für Anatomie
Mit einem etwas beklemmenden Gefühl betreten wir (die Online-Kommunikation) die Räumlichkeiten der anatomischen Lehre am Kreuzbergring. Schließlich wissen wir nicht, was uns dort erwarten wird.
Als wir ankommen, warten bemundschutzte Studierende wuselnd und doch koordiniert im Eingangsbereich. Werden wir im Präparierkurs landen und sehen, wie eine Leiche seziert wird? Werden wir ungewohnte Gerüche wahrnehmen? Werden wir als Nicht-Medizinerinnen umkippen?
In diesem Moment kommen schon Herr Prof. Staiger, Leiter des Zentrums für Anatomie innerhalb des Instituts für Neuroanatomie und Herr Prof. Dresbach, Leiter der AG Synaptogenese im Institut für Anatomie und Embryologie. Sie sorgen dafür, dass Studierende eine umfassende und innovative Ausbildung in Anatomie und ein exzellentes Forschungsumfeld für ihre Doktorarbeiten bekommen.
Anders als die Studierenden tragen sie keine weißen Kittel - farblich abgestimmt sind sie trotzdem mit ihren zufällig ausgewählten bordeauxfarbenen Pullovern. Los ging es!
Unser Glück: Auf dem Weg in Richtung Hörsaal nahmen wir dann aber - anders als alle Studierenden - die linke Tür und da steht er, der 3D-Seziertisch.
Der virtuelle Seziertisch
Dachten wir zunächst noch, dass dies ein „normaler“ Operationstisch sei, änderte sich schnell unsere Sichtweise auf diesen, als Herr Prof. Dresbach das Gerät mit leuchtenden Augen anschaltet. „Na dann legen Sie mal los“, sagt er locker mit einer Wischbewegung mit seiner Hand. Das digitale Bild einer weiblichen Person, lebensecht und in Originalgröße liegt vor uns. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde sie schlafen.
Mit der ersten Fingerbewegung (und zugegeben einer gewissen Anspannung) auf dem Touchscreen-Tisch entfernen wir die Haut. Muskulatur, Sehnen, Arterien und Knochen kamen zum Vorschein und wir traten erschrocken einen Schritt vom Tisch zurück. Prof. Staiger macht den Vorgang rückgängig, sodass wir das Entfernen der Haut wiederholen konnten.
Die personalisierte Lehre
Genau an dieser Stelle wird einer der Vorteile des rund 80.000 Euro teuren virtuellen Seziertischs deutlich: Die Studierenden im ersten oder auch höheren Semester können die Arbeitsschritte immer wieder wiederholen – nach individuellen Lernvorlieben, Wissenslücken und medizinischem Interesse. Sie sind es, für die der virtuelle Seziertisch angeschafft wurde und die coronabedingt in Gruppen von vier Personen um den Tisch stehen und arbeiten können.
Schnell merken wir, dass unsere Berührungsängste nachlassen und wir immer neugieriger und entspannter auf den abgebildeten Körper schauen. Dankenswerterweise riecht dieser kein bisschen nach Formaldehyd, eine Flüssigkeit, die bei echten Leichen als Konservierungsmittel genutzt wird.
„Während überall von personalisierter Medizin die Rede ist, haben wir das Konzept der personalisierten Lehre einmal aufgreifen wollen“, sagt Prof. Dresbach.
Beide Leitungen sind überzeugt, dass das Lernen am virtuellen Tisch eine wichtige Ergänzung im Lehrangebot ist, weil jeder Mensch mit unterschiedlichen Mitteln wie Präparierkurs, klassische Fachliteratur oder dem virtuellen Tisch unterschiedlich gut lernen. „Am realen Sezieren an unseren Körperspenden kommt aber keiner der Studierenden vorbei.“ sagt Dresbach und Staiger fügt hinzu: „Man muss schon mal gespürt haben, wie schwer eigentlich eine Leber ist, wie groß die Niere und wie es sich anfühlt, wenn man Schicht für Schicht und Sehne für Sehne abträgt“.
Anhaltende Faszination, den menschlichen Körper zu verstehen
Einige staunende „Ahhs“ und „Ohhs“ kommen schon aus unserem Mund. Wir merken, dass auch die Begeisterung der erfahrenen Anatomen für diese entscheidende Grundlage der Medizin keineswegs nachgelassen hat. Im Gegenteil!
Wir können die medizinische Faszination, in die Tiefen des menschlichen Körpers zu tauchen, in unserem knapp zwei stündigen Besuch nur erahnen. Gleichzeitig sind wir froh, auf dem Flur nicht in die analoge Welt mit den reale Leichen abgebogen zu sein.
Zu den Personen
Prof. Jochen Staiger, Geschäftsführender Leiter und Direktor des Zentrums für Anatomie
Im Jahr 2010 kam Prof. Jochen Staiger aus Freiburg an die UMG. Zu Beginn seiner Tätigkeit hat vor allem der Sonderforschungsbereich 889 von Herrn Prof. Moser "Rückenwind" für die neurobiologische Forschung gebracht: Das Labor wurde zu einem modernen interdisziplinären Neurolabor mit der Forschungsausrichtung „Strukturelle Grundlagen von sensorischer Informationsverarbeitung“ weiterentwickelt. Auch wenn sein Tagesgeschäft als Leitung des Zentrum für Anatomie an der UMG viele administrativen Aufgaben beinhaltet und er sich in diesen Pandemietagen manchmal vorkommt wie die "Feuerwehr", so sagt er selbst, dass sich die UMG bzw. Göttingen als ein absoluter "Glücksfall" in seiner Biografie entwickelt hat.
- 1987 – 1990: Experimental studies at the Justus-Liebig-University Giessen at the Institute of Anatomy and Cell Biology (Head: Prof. A. Oksche)
- Feb. - March 1989: Visiting fellow at the laboratory of Dr. F. G. Wouterlood at the Free University of Amsterdam
- Aug. - Okt. 1989: Visiting fellow at the laboratory of Prof. L.C.H. Wang, Dept. Zoology, Edmonton, Canada
- Feb. - March 1990: Scholarship holder of the European Science Foundation at the laboratory of Dr. F. G. Wouterlood at the Free University of Amsterdam
- Januar 1993: Graduation as MD (Dr. med.) at the Medical Faculty of the Justus-Liebig-University Giessen; grade: summa cum laude
- 1992 – 1994: Internship at the Department of Neurology at the University Düsseldorf(Head: Prof. Dr. H.-J. Freund)
- Feb. - June 1994: Scholarship holder of the German Research Council at the laboratory of Dr. T. F. Freund, KOKI, Institute of Experimental Medicine, Dept. of Functional Neuroanatomy
- June 1994 - present: Post-doc at the C. & O. Vogt-Institute for Brain Research, Düsseldorf, (Head: Prof. Dr. K. Zilles)
- March 1998: Fachanatom – Anatomische Gesellschaft
- December 2000: Habilitation and Venia legendi for Anatomy at the Medical Faculty of the Heinrich-Heine-University Düsseldorf
- May 2002: Assistant Professor (C2-Hochschuldozenten)
- November 2003: Junior Research Award of the Northrhine-Westfelian Academy of Science-initiative „Neurovisionen“
- March 2006: Associate Professor of Cell Biology (Institute of Anatomy and Cell Biology, Department of Neuroanatomy) at the Albert-Ludwigs-University Freiburg
- January 2007: Founding member of the Collaborative Research Center 780 Synaptic mechanisms of neural network function (Project C1: Topographic maps and their synaptic circuits in modular and nonmodular (disorganized) rodent barrel cortex)
- April 2010: Full Professor of Neuroanatomy and Director of the Department of Neuroanatomy (Center Anatomy) at the Georg-August-University Göttingen
- January 2011: Founding member of the Collaborative Research Center 889 Cellular mechanisms of sensory processing (Project C3: Integration of afferent sensory and cortical input by identified neurons of the rodent somatosensory cortex)
Prof. Thomas Dresbach, Leiter der AG Synaptogenese im Institut für Anatomie und Embryologie
Auch Prof. Thomas Dresbach kam im Jahr 2010 mit dem Ruf zu einer W2-Professur an die UMG. Sein Tagesgeschäft teilt sich etwa zur Hälfte in einen Forschungs- und einen Lehreteil. Am Neurostandort Göttingen reizt ihn besonders das tolle Forschungsumfeld, das ihn täglich motiviert und neue Impulse gibt. Er studiert mit hochauflösenden Mikroskopen, nach welchen Regeln sich Synapsen bilden und welche Bedeutung das für Erkrankungen des Gehirns hat. Im Bereich der Lehre ist er daran interessiert, immer neue Lehrmethoden in seinen Unterricht zu integrieren, um kreatives und nachhaltiges Lernen zu beflügeln.
- Dr. rer.nat. (Biology), 1996, University of Bonn
- DFG research fellow and postdoctoral fellow with Prof. Dr. E. Gundelfinger at the Leibniz Institute for Neurobiology, 1997- 2003
- Teacher and independent research group leader at the University of Heidelberg, Institute for Anatomy and Cell Biology (Dept. Prof. Dr. J. Kirsch), 2003-2010
- Professor at the School of Medicine, University of Göttingen, since 2010
- January 2011: Founding member of the Collaborative Research Center 889 Cellular mechanisms of sensory processing (Project B2: Synapse-specific regulation of presynaptic function in the cochlear nucleus)
- January 2015: Speaker of section B1 and board member in the CNMPB (Cluster of Excellence 171 for Nanoscale Microscopy and Molecular Physiology of the Brain, Goettingen)
- March 2019: Speaker of the doctoral program “Cellular and Molecular Physiology of the Brain” (CMPB) of the Göttingen graduate school GGNB
Preise für gute Lehre:
- 2015: durch die Fachschaft Medizin
- 2017: durch den Verein der Freunde und Förderer der Medizinischen Fakultät
- 2019: durch die Medizinische Fakultät
Für Studierende
Es gibt zwei Tische für die UMG-Studierenden – einer direkt in den Lehrräumen der Anatomie, der andere in der UMG-Bibliothek (Ansprechpartnerin Dagmar Härter). An beiden Tischen können Studierenden nahezu an 24 Stunden am Tag und an sieben Tagen in der Woche üben.
Zu Zeiten, in denen studentische Lehre aufgrund der Corona-Pandemie eingeschränkt war, gab es sogar Online-Zugänge, sodass einfach von Zuhause aus digital seziert werden konnte.
Vielen Dank an Herrn Prof. Staiger und Herrn Prof. Dresbach für die tiefen Einblicke in den menschlichen Körper und die Zeit, die Sie sich für dieses Interview genommen haben.
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