„Ich wollte schon immer Ärztin werden.“
Dr. Jennifer Ernst, 35-jährige plastische Chirurgin in der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie
Für viele Mitarbeiter*innen der UMG ist ihr Beruf nicht nur eine Tätigkeit, die die Miete bezahlt und den Kühlschrank füllt, sondern eine tatsächliche Berufung. Eine dieser "Berufenen" gibt Einblicke in ein spannendes Forschungsfeld …
Wie haben Sie Ihre "Berufung" gefunden Frau Ernst?
„Ich wollte schon immer Ärztin werden. Es gibt viele Kinderbilder von mir, auf denen ich mit Arztkoffer oder Stethoskop zu sehen bin. Im Biologie-Leistungskurs haben mich dann vor allem die Experimente fasziniert, die meine Mitschüler*innen abschreckend fanden. Die Untersuchungen damals am Frosch haben meine Begeisterung für Nerven hervorgerufen. Für mich war daher klar, dass ich Medizin studieren möchte. 2005 habe ich an der UMG mein Humanmedizinstudium begonnen, bin über verschiedene Projekte zu meiner Forschungsrichtung gekommen, in der ich nun mitten in meiner Habiliation stecke.“
Wie sind Sie vom großen Gebiet der Nerven zur plastischen Chirurgie gekommen?
„Sehr lang habe ich darüber nachgedacht, ob ich Neurologin oder Neurochirurgin werde - dies wäre im ersten Moment das Offensichtliche gewesen, da mich Nerven so faszinierten. Während diversen Praktika in der plastischen Chirurgie faszinierte mich, dass man in diesem Fach neben der Wiederherstellung von Nervenfunktion Operationstechniken erlernt, die einem ermöglichen, Funktion und Gefühl von Kopf bis Fuß wiederherszustellen. So kam ich Schritt für Schritt immer weiter an mein Forschungsthema – dem Phantomschmerz.“
Was genau interessiert Sie am Thema Phantomschmerz?
„Woher der Phantomschmerz stammt, ist bislang noch nicht endgültig geklärt. Fakt ist: Einige haben ihn nach Amputationen, andere nicht. Bei manchen ist es ein bestimmtes Missempfinden, bei anderen ein "komisches" Gefühl. Ein nicht unerheblicher Teil beschreibt diesen Prozesse jedoch als schmerzhaft und ist dadurch sehr eingeschränkt. Eine effiziente Behandlung ist komplex und sollte individuell abgestimmt sein.
Hier finde ich es zum einen spannend, was man operativ alles noch leisten kann, um diesen Schmerz zu adressieren. Dann kann man zum Beispiel auch mithilfe von noch funktionierenden Nerven Prothesen oder andere Hilfsmittel steuern. Auch den Einsatz von innovativen Technologien wie Augmented und Virtual Reality nehmen wir in unsere Therapiekonzepte mit auf. Um den Nutzen davon zu erforschen, bedarf es Studien. Denn davon ist abhängig, ob dieser technische Fortschritt als Leistungen der Krankenkasse in den Leistungskatalog aufgenommen werden oder es Einzelfallentscheidungen bleiben.“
Phantomschmerz
„Unter Phantomschmerz versteht man Schmerzen in einem Körperteil, der nicht mehr vorhanden ist, meist infolge einer Amputation. Nach der Amputation spüren die allermeisten Betroffenen weiterhin die nicht mehr vorhandene Gliedmaße, beispielsweise ihre Länge, den Umfang, oft auch eine bestimmte Haltung. Gelegentlich wird über nicht-schmerzhafte Empfindungen wie Kribbeln, Berührungsempfindungen, Zucken berichtet. Etwa 60–80% der Amputierten nehmen Schmerzen im amputierten Körperteil wahr."
Warum halten Sie die Forschung am Thema Phantomschmerz für so wichtig?
„Ich bin Ärztin geworden, um anderen zu helfen. Dass ich jetzt neben der klinischen Arbeit auch noch Forschung betreiben kann, ist ein großes Glück und Resultat meiner Neugierde. Als Kind hatte ich wegen einer Skoliose täglich Anwendungen. Ich musste u.a. zwei Mal die Woche zur Physiotherapie. Das war damals ein Riesenaufwand für 20 Minuten Behandlung. Wenn ich den technischen Fortschritt, der heute möglich ist, schon damals hätte nutzen können, hätten sich meine Eltern viel Stress ersparen können. Letztlich geht es doch bei jeder Behandlung darum, wie können Therapiekonzepte individualisiert umgesetzt werden. Wenn ich Mithilfe von Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) bzw. speziellen medizinischen Apps auch von Zuhause etwas für meine Genesung tun kann, wird mir doch ein Teil der externen Faktoren, die auf einen Behandlungserfolg einwirken können, erleichtert.“
Wie meinen Sie diese zukunftsorientierte Herangehensweise genau?
„Amputationspatient*innen sind nicht mit anderen Patient*innen zu vergleichen, denn Behandlung endet noch lange nicht dann, wenn das Bein oder der Arm amputiert wurde. Da beginnt die eigentliche Behandlung erst. Und damit dies zu aller Zufriedenheit gelingen kann, muss man versuchen, Störquellen weitestgehend zu minimieren. Fahrtwege zu Therapiestunden, die man mittlerweile gut Zuhause fortsetzen könnte, sind da nur ein Beispiel. Ich versuche herauszufinden, was sich alles positiv auf eine Behandlung auswirkt. Das Umpflanzen der Nervenenden des Stumpfes an einen noch funktionierenden Muskel sind hier Maßnahmen, die nach Amputation das Bedienen einer Prothese erleichtern kann. Der spielerische Einsatz von AR und VR sind ein Beispiel, welche die Rehabilitation als maßgeblicher Erfolgsfaktor für eine operative Behandlungsmethode effizient ergänzen kann.
Wie viele Amputationen werden in Göttingen jährlich vorgenommen?
„In der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Plastische Chirurgie werden jährlich ca. 60-80 Extremitäten amputiert. Die Gründe für eine Amputation sind dabei verschieden. Es können aufgrund von Vorerkrankungen wie zum Beispiel Diabetes Amputationen notwendig werden, durch Sarkome oder andere Krebsarten oder durch Unfälle.
Nach der Amputationen beginnt häufig die eigentliche Arbeit mit und für den Patient*innen. Dafür haben wir auch eine sehr gute Interdisziplinäre Sprechstunde für Amputationsmedizin, die ich mit meinen Kollegen Prof. Braatz und Prof. Felmerer anbiete.
Wie würden Sie abschließend Ihren Arbeitsalltag zusammenfassen?
„Meine Arbeit in der Klinik und im Labor macht mir enorm viel Spaß und macht mich täglich neugieriger für neue Möglichkeiten. Ich bin froh, dass ich praktisch arbeiten und nebenbei forschen kann. Meine Habilitation wird zum Teil auch durch das fakultätsinterne Frauenförderungsprogramm "Heidenreich von Siebold" unterstützt. Nur so kann ich meine Arbeit als Schnittstelle zwischen Forschung und Entwicklung, Medizin und Industrie definieren, die einen anwenderbezogenen Fokus hat. Es ist nicht selbstverständlich, dass man einen Beruf ausüben darf, der einen Spaß macht. Ich bin darüber überaus dankbar. Vor allem auch, weil ich mit meinem Beruf das Gefühl habe, etwas bewegen und Patient*innen wirklich helfen zu können.“
Liebe Frau Dr. Ernst, danke für die Zeit und die Energie, die Sie in Ihre Projekte stecken. Wir wünschen Ihnen alles Gute, viel Erfolg für Ihre Habilitation im nächsten Jahr und weiterhin die Freude bei der Arbeit, die Sie antreibt.
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